Murdsche wider Willen
"Sie ist... nichts! Trag sie raus und wirf sie weg!" Der Alte raffte seinen Umhang und wandte sich zum Gehen.
Truud kniete im Staub: "Herr", stammelte die Frau, "sie trägt schon das Zeichen, niemand wird sie schonen! Und sie ist verletzt und zerschlagen!"
Der Alte runzelte die Stirn, ein Anflug von Zorn rötete seine windgegerbten Wangen. Widerspruch war er nicht gewöhnt.
"Sie hat sich entschieden. Frei, wie sie soll, aber feige entschieden. Gorbaz hätte überlebt. Nicht auszudenken! Er war nicht gut genug. Er ist ehrenvoll gestorben."
"Er war ihr Frünne - wie hätte sie ihn töten können?", flüsterte Truud, Heilerin des Stammes der Liekedeeler und Mutter der rotblonden Tochter des Alten.
"Sie kannte die Regeln. Wirf sie weg!"
Ohne ein weiteres Wort schlug der Alte die Zeltplane zurück und verschwand in das diesige Dunkel der hereingebrochenen Nacht. Westwind drückte das Wasser ins Haff.
Am zentralen Platz brannte das Freudenfeuer. Doch heute würde kein erfolgreicher Frischling seine Aufnahme in den Kreis der für das Überleben des Stammes so wichtigen "Murdschen" feiern. Das Mädchen hatte beim rituellen Kampf auf Tod und Leben seinen Sieg nicht abgeschlossen, der unterlegene Jüngling war beschämt und gab sich selbst den Tod, der ihm von ihr verweigert worden war. Keiner hatte in dieser Nacht Grund zu feiern.
Zweimal musste sie den Neumond abwarten, ehe sie es sich zutraute, eines der leichten Boote der Liekedeeler zu stehlen, die am Ufer der flachen Schelfsee lagen. Ihre Wunden waren nicht alle oberflächlich gewesen. Zwar hatte Truud sie in einer Brandungshöhle versteckt und ihre Wunden versorgt, aber alles braucht seine Zeit. Sie hatte Blutverlust, Brüche und das Fieber überlebt.
Gorbaz und sie waren bei den Übungen gleichwertige Gegner gewesen - mit Freude am Spiel der Muskeln schweißnasser Körper. Das war, als sie lernte, auf ihn Rücksicht zu nehmen und in den Fällen, in denen es ihr gelang, die Oberhand zu gewinnen, im letzten Moment einen kleinen Fehler zu machen, der Gorbaz wieder einen Vorteil verschaffte. Das war, als beide nicht wussten, dass ausgerechnet sie gegeneinander würden kämpfen müssen. Gorbaz' vorgesehener Gegner starb am Tag vor dem Kampf. Eine seltene Qualle war ihm beim Muscheltauchen begegnet, erst schwoll sein Kniegelenk auf den fünffachen Umfang und am Abend versagte der Kreislauf.
So wurde Truuds Tochter die Gegnerin von Gorbaz für den Kampfritus der Frischlinge.
Beide erhielten vor dem Kampf das Zeichen. Es machte sie beide zu Murdschen. Es machte sie - erkennbar für jeden - zu käuflichen Mördern, frei, den Tod zu geben, aber auch vogelfrei vor dem Gesetz. Nur einer würde nach dem Kampf dieses Zeichen vor der Welt tragen, nur einer würde dem Stamm goldschwere Einnahmen durch Aufträge der Stadtleute einbringen.
Nichts davon wurde Wirklichkeit. Sie hatte es nicht über sich gebracht, Gorbaz zu töten. Er hatte die Niederlage nicht überleben wollen.
Wirklichkeit war, dass sie nun eines der Boote stahl und sich flach auf dem Rücken liegend von ihrer heimatlichen Küste entfernte. Sie trug das Zeichen in eine neue Welt. Aber was es versprach würde sie nie einlösen. Gorbaz' Tod, den sie ihm nicht hatte geben können, stand zwischen ihr und der Käuflichkeit einer Murdschen. Sie würde nie ein ganzer Liekedeeler sein: Sie ist Lieke.
1. Sie nimmt trotz ihres Zeichens keine Mordaufträge an.
2. Sie schlägt nicht als erste zu.
3. Noli me tangere! Gibt man ihr Grund zur Rache, ist ihr jedes Mittel recht: Du schlägst (tötest) mich - ich schlage (töte) dich zweimal. Du bestiehlst (lootest) mich - ich beraube (loote) dich zweimal.