von Judith Haselstrauch aus Vesper » Do, 31. Jan 2008 08:23
Judith erwachte schweißgebadet. Wieder so ein Traum. Seit dem ersten Tag
auf Jhelom hatte sie seltsame Träume, aber dieser war besonders, anders.
Irgendwie realistisch, aber gleichzeitig doch so fremd. Da war ein Mann,
sie war ein Mann, und dieser Mann war wohl ein Jäger. Ein Wald, wilde
Tiere, einige davon waren ihr völlig unbekannt, trotzdem kannte sie all
ihre Namen, ihre Schwachstellen, die Waldwege, der Verstecke der Tiere,
alles. Es war ihr so vertraut, als wäre sie dieser Mann.
"War das mein früheres Leben?" durchzuckte sie ein Gedanke, doch sie
verwarf ihn rasch. Das war alles zu klar, zu ... neu für sie. Nein, ein
Ausschnitt aus dem Leben, was sie vor Jahrzehnten geführt haben solle,
war das sicher nicht.
Sie öffnete die Augen, und stellte fest, daß es noch immer stockdunkel
war. Ihr Zimmer in der Herberge hatte keinerlei Fenster. Nach ihrer
Kerze tastend stand sie auf, öffnete die Tür und blickte in den Gang.
Die Schwärze der Nacht umgab sie. Offenbar war es schon sehr spät und
der Wirt hatte die Lichter schon gelöscht.
Mit einer Hand an der Wand, die andere vor sich ausgestreckt, tappste
sie mit nackten Füßen in Richtung Vorraum. Dort ließ der Wirt über Nacht
immer eine Lampe brennen. Sie bog um eine Ecke und nahm den Lichtschein
wahr, wenig später ging sie mit leuchtender Kerze in ihr Zimmer zurück.
Dieser Traum ... wie ging er weiter?
Der Mann war auf der Jagd. Plötzlich änderte sich die Szene. Es war
stockdunkel. Nicht so dunkel wie in den Gängen der Herberge, nein, ein
anderes, kälteres Dunkel. Eine Schwärze, die alles verschlingt. Einzig
die Anwesenheit von Schwärze, oder vielmehr das Fehlen von ... allem.
Nichts, da war einfach nichts mehr. Das Nichts. Dunkelheit.
Dann ein Wandel. Irgendwo schimmerte etwas. Es war ein blasser Schimmer,
nicht so hell wie die Kerze, die sie eben entzündet hatte. Es war grün.
Die konzentrierte sich darauf. Es wurde grüner und klarer. Nun war sie
auf einem Weg, einer Straße, den Wald hinter sich lassend. Vor ihr lag
eine Ortschaft, eine Stadt gar? Um sie herum grüne Wiesen und Felder.
Ein Gefühl von Heimat umkam sie, obwohl sie die Gegend nie gesehen
hatte. Lag hier das Zuhause des Jägers? Sie blickte nach vorn, und
bemerkte, wie sich sich langsam der Ortschaft näherten. Da war ein
stechender Schmerz, der das Vorankommen behinderte. Sie blickte an
sich herab, bemerke eine blutende Wunde.
Sie näherten sich einem Haus. Der Mann schleppte sich über die Schwelle
und brach zusammen. Die Szene wechselte erneut. Etwas hob sich aus dem
Mann hervor, stand über ihm. Nein. Es schwebte über ihm. Sie schwebten
durch das Haus, schwebte durch alle Zimmer, Etage für Etage.
Als sie im letzten Zimmer angekommen war, spürte sie einen großen
Verlust. Da waren Dinge im Haus, die auf weitere Personen schließen
ließen. Und Judith war sicher, daß der Mann diese Personen vermißte.
Ja, er hatte das ganze Haus durchsucht! Und er hatte niemanden
gefunden. Die Gefühle waren stark. Irgendetwas sagte ihr, daß es
seine Gefährtin und ein Kind waren, die er vermißte.
Konnte er in diesem Zustand überhaupt lebende Menschen wahrnehmen?
Sie war sicher, er war tot, und das, was von ihm durch das Haus
schwebte, war sein Geist. Oder seine Seele. Oder ... irgendetwas,
was in einer anderen Welt war. Ob es lebte? Darauf wollte sie sich
nicht festlegen.
Schlagartig überkam sie eine Mischung aus Angst und Wut. Hatte jemand
den beiden etwas angetan? Ging es ihnen gut? Hätte etwa diese ...
Judith versuche sich zu beruhigen. Dieser Gedanke hatte sie vorhin aus
ihrem Traum gerissen und schweißgebadet aufwachen lassen. Sie blickte
auf die Kerze, die ruhig im windstillen Zimmer glomm. Alles war gut,
es war nur ein Traum. Oder?
Sie beschloß, vorerst nicht weiter darüber nachzudenken, bließ die Kerze
aus und legte sich wieder schlafen. Sie verbrachte die restliche Nacht
traumlos.
Judith Haselstrauch