Die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel herab. Die kahlen Bäume am Wegesrand sahen aus wie riesenhafte Ungetüme mit langen, spitzen Armen. Der kalte Nordwind wehte durch den Wald, Schnee stob auf und tänzelte langsam durch die Äste, so still, als glaube er, niemand würde ihn beobachten. Wunderschön war er, der Wald, in das hellste Blau getaucht, was Salia je sah. Ihre Kapuze hing ihr tief ins Gesicht, den nussbraunen Reiseumhang zog sie enger um sich, so klirrend kalt war es. In diesem Moment, in dem die Schützin allein durch die Stille ritt, gebannt vom Anblick der unberührten Natur, in diesem Moment spürte sie die Ewigkeit…
Umringt von ein paar Zedern, die mit ihren grünbläulichen Nadeln ein paar farbige Kleckse in den Wald brachten, erblickte Salia in der Ferne eine kleine Kapelle. Sie strahlte pure Kälte aus, aber dennoch faszinierte sie die junge Frau. Waren es die leicht verschneiten Fenster, die nur auf einen Sonnenstrahl warteten, damit sie ihr buntes Licht auf dem Boden tanzen lassen konnten oder war es der Altar, der nur sehnsüchtig die nächste Zeremonie erwartete?
Auf dem Altar saß ein Wesen, mit dem Salia nicht gerechnet hätte: ihr Vater. Niemand anderes als der Wächter und Gott der Toten, Jergal. Sein Anblick raubte Salia den Atem. In eine dunkle Robe gehüllt, umgeben von einer Aura, die, so wusste die Schützin genau, allen anderen Menschen ein unbehagliches Gefühl beschert hätte. „Salia...du bist auf der Suche nach Etwas…ist es Erkenntnis? Antworten? Oder suchst du gar den Tod? Dein Schicksal führte dich hierher, zu mir…“ Seine Stimme klang unmenschlich, sie hallte von den Wänden der kleinen Kathedrale wider und Salia spürte, wie sich ihre Nackenhaare langsam aufstellten.
„Ich suche nach Antworten…Es gibt zu viele Dinge, die mich am Dasein in dieser irdischen Welt halten. Menschen, die mir sehr viel bedeuten, Gefühle, für die ich töten würde und Tatsachen, die mich manchmal zur Verzweiflung treiben. Für All das würde ich sterben, aber niemals freiwillig. Ich sehe die Seelen der Verstorbenen, sehe ihr Leid in den Augen, ihre Qualen vor dem Tode, aber auch ihre Freude. Die Freude der Erlösung. Nur eines sehe ich nicht: meine Brüder. Es bricht mir das Herz, nicht zu wissen, ob sie glücklich sind, ob sie leiden. Zwar sehe ich ihre Verkörperung als Tiere…doch ihre Blicke sind leer, sagen mir nichts über ihre Gefühle. Wieso kann ich sie nicht sehen, Vater?“
Ein mildes Lächeln umspielten die Mundwinkel Jergals, das Salia nicht richtig zu deuten wusste. Sie versuchte einen Blick auf seine Augen zu erhaschen, die Augen eines allsehenden Gottes. Es war ein unmögliches Unterfangen zu versuchen, eine Farbe darin zu erkennen, zwar waren sie nicht farblos, doch wechselte sie sich stetig. Vom tiefsten Nachtblau bis hin zum kräftigsten Grün oder flammendsten Rot. Eine kurze Zeit lang überlegte der Totengott, neigte dann langsam seinen Kopf, lächelte leicht und sagte leise: „Du kannst sie sehen, Salia...Du musst es nur wollen.“ Gerade wollte sie ihm widersprechen, da fügte er hinzu: „Ich weiß, du denkst, dass du es willst. Aber Etwas in deinem tiefsten Inneren wehrt sich dagegen. Etwas versucht zu verhindern, dass du William und Garrett siehst...“
Fast ein wenig erstaunt blickte Salia ihren Vater an, sie verstand seine Worte nicht ganz, konnte sie doch nicht glauben, dass letztlich sie selbst der Grund sein sollte. Doch bevor, sie etwas erwidern konnte, verschwand ihr Vater mit den Worten „Finde die Bedeutung meiner Worte heraus und du wirst in der Lage sein, sie zu sehen...“ Es schien, als würde das Gesagte noch minutenlang von den Wänden widerhallen, bis Salia merkte, dass es eigentlich ihr Kopf war, der die Worte nur immer und immer wieder reflektierte. Nun stand sie da, allein mit einer Weisheit, die sie weder begreifen noch akzeptieren wollte. Sie machte langsam auf dem Absatz kehrt und schloss kurz die Augen, als hoffte sie, die Bedeutung würde sich ihr so eröffnen, doch auch jetzt umnebelte sie der Schleier der Unwissenheit.
Nur mühevoll konnte sie auf den Rücken ihres Ostards klettern, die Kälte in ihren Gliedern ließ sie schwerfällig werden. Das Reittier selbst schien so, als bemerke es den eisigen Frost und die umherwirbelnden Schneeflocken nicht, schließlich war es diese Temperaturen gewöhnt. So ritt sie dahin, Tag um Tag, Nacht um Nacht. Kaum kam sie zur Ruhe, Jergals Worte klangen in ihrem Kopf wie ein Echo. Sie konnte nicht genau sagen, wie lange sie so dahin ritt, vielleicht waren es Tage, Wochen oder gar Monate. Kleine Wölkchen bildeten sich vor Salias Atem, das Schneetreiben war mittlerweile so dicht, dass es ihr die Sicht nahm. Zu spät sah sie den Schatten, der auf sie zukam, zu spät konnte sie nach ihrem Bogen greifen. Mit einem dumpfen Schlag trafen sie die Klauen des Frostdämons, sie rutschte vom Rücken ihres Eisostards und landete hart auf dem Boden. Der Aufprall raubte ihr für einen kurzen Moment den Atem, fast verlor sie das Bewusstsein. Sie spürte den kalten Schnee unter sich, sie schmeckte Blut und wusste, wenn sie sich nicht augenblicklich wieder fangen würde, würde es das letzte Mal sein, dass sie diesen Winterwald in seiner Schönheit erblicken konnte.
Es schien aussichtslos, die beschränkte Sicht nahm ihr jeglichen Vorteil gegen den riesigen Feind, sie stolperte mehr als dass sie lief und innerlich verfluchte sie ihre Unachtsamkeit. Wie konnte sie nur so in Gedanken versunken sein, dass sie alles um sich herum vergaß? Die klauenbewehrte Hand des Dämons holte immer und immer wieder nach der Schützin aus, nur mit Mühe konnte sie ihnen ausweichen. Ihr Körper war übersäht mit Schrammen und Rissen, von denen jede Einzelne wie Feuer brannte. Sie war gefangen in einer Schneehölle, aus der sie keine Ausweg wusste...Sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als Williams meisterliche Bogenkunst oder Garretts Furchtlosigkeit. Hilflos lag sie im Schnee, sah den Frostdämon auf sie zukommen, das Tosen des Windes, das tiefe Grollen ihres Gegner, all das hörte sie nicht. Unfähig auch nur einen letzten Schrei von sich zu geben, ballte sie die Faust zusammen und spürte, wie der Schnee langsam zwischen ihren Fingern schmolz...